Zwei Jahre nach dem Inkrafttreten des sogenannten Prostituiertenschutzgesetzes (ProstSchG) zieht die Aidshilfe NRW erneut Bilanz. Die von der Aidshilfe NRW sowie von vielen anderen Verbänden und Fachgesellschaften im Vorfeld des Gesetzesbeschlusses vorausgesagten negativen Folgen sind eingetreten: Das Gesetz erschwert den Schutz und die Unterstützung von Sexarbeiter*innen und die Zusammenarbeit nicht-staatlicher und staatlicher Institutionen. Mit seinem repressiven und bevormundenden Ansatz verschärft das Gesetz die Diskrimnierung und Stigmatisierung von Sexarbeiter*innen. Zudem wurden die Rahmenbedingungen für die Strafverfolgung von sexualisierter Gewalt und Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung nicht verbessert.
Im Hinblick auf die von der Aidshilfe NRW und ihren Mitgliedsorganisationen im Bereich Sexarbeit zu erreichenden Zielgruppen, Menschen in prekären Lebensverhältnissen und Menschen in der Beschaffungsprostitution, fordern wir die Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik auf, kurzfristig Maßnahmen zur Abmilderung der Folgen des ProstSchG zu ergreifen:
Dass im ProstSchG auf unterstützende Komponenten verzichtet wurde, bleibt nicht ohne Wirkung. Die im Bericht des nordrhein-westfälischen Gleichstellungsministeriums vom 7. November 2018 vorgelegten Anmeldezahlen und zahlreiche Erfahrungsberichte aus der Vor-Ort-Arbeit belegen: An Sexarbeiter*innen in prekären Lebensverhältnissen (zum Beispiel durch Armut, Wohnungslosigkeit, Flucht) geht das Gesetz völlig vorbei. Ihr Zugang zu anonymen Beratungs-, Präventions- und Unterstützungsangeboten wird deutlich erschwert oder unmöglich gemacht.
Die Aidshilfe NRW sieht akuten und massiven Handlungsbedarf, um die Folgen des Gesetzes abzumildern. Die dem Deutschen Bundestag 2025 vorzulegende Evaluation und eine daraus folgende Gesetzesnovellierung abzuwarten, wäre fahrlässig. Nachfolgend finden Sie Erläuterungen und Beispiele.
Anhörung im Ausschuss für Gleichstellung und Frauen zum Nordischen Modell
Im Januar 2021 fand im Ausschuss für Gleichstellung und Frauen des Landtags Nordrhein-Westfalen eine Sachverständigenanhörung zum Thema "Nein! Zum Sexkaufverbot des Nordischen Modells – Betroffenen helfen und nicht in die Illegalität abschieben" statt. Auch unsere Kollegin Petra Hielscher hatte die Gelegenheit, für die Aidshilfe NRW Stellung zu nehmen. Das Protokoll der Sitzung wurde inzwischen veröffentlicht. Sie finden es hier (PDF-Datei).
Gerade der vulnerable Teil der Menschen, die sexuelle Dienstleistungen anbieten, sind nicht in der Lage sich anzumelden. Für die einen ist der Anmeldevorgang viel zu kompliziert und hochschwellig. Ein anderer Teil versteht sich gar nicht als Sexarbeitende, weil dies mit ihrem Selbstbild nicht vereinbar wäre. Wieder andere befürchten den Verlust der Anonymität, wenn sie beispielsweise Post vom Finanzamt, aus der die Art der Tätigkeit hervorgeht, an ihre Privatadresse in Deutschland erhalten und so Angehörige von ihrer Tätigkeit erfahren könnten. Oder sie befürchten, dass Finanzbehörden ihrer Heimatländer, in denen Sexarbeit strafbar ist, von ihrer Tätigkeit erfahren.
Die Kommunen haben nach § 19 Infektionsschutzgesetz den gesetzlichen Auftrag, die anonyme Beratung und Untersuchung bezüglich sexuell übertragbarer Krankheiten für Personen, deren Lebensumstände eine erhöhte Ansteckungsgefahr für sich oder andere mit sich bringen, sicherzustellen. Durch das ProstSchG sind den Kommunen weitere Aufgaben zugewachsen, so zum Beispiel die Umsetzung der verpflichtenden gesundheitlichen Beratung nach § 10 ProstSchG, aber auch Kontroll- und Überwachungspflichten. Diese Doppelrolle erschwert für parteilich handelnde nicht-staatliche Beratungsstellen die konfliktfreie Zusammenarbeit mit den Kommunen.
Regelungen wie die Pflicht zur gesundheitlichen Beratung (§ 10 ProstSchG) unterstellen, dass Sexarbeitende generell nicht in der Lage wären, sich um ihre Gesundheit zu sorgen. Sie zementieren ein stigmatisierendes Bild dieser Berufsgruppe und unterlaufen Professionalisierung und Emanzipation.
So zeigen die Zahlen zu Verfahren, Tatverdächtigen und Opfern des Menschenhandels zur sexuellen Ausbeutung in den vergangenen vier Jahren (2014 – 2017) in Nordrhein-Westfalen zwar einen Anstieg an; dieser Anstieg ist aber bereits vor dem Inkrafttreten des ProstSchG sichtbar. Hinsichtlich der Identifizierung von Opfern von Menschenhandel konnten für die Bereiche Anmeldung und gesundheitliche Beratung bislang so gut wie keine entsprechenden Erfolge festgestellt werden (siehe Bericht des Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung vom 7. November 2018 für den Ausschuss für Gleichstellung und Frauen des Landtages Nordrhein-Westfalen).
So unterscheidet das Prostituiertenschutzgesetz hinsichtlich der Mindestanforderungen an zum Prostitutionsgewerbe genutzte Anlagen und Fahrzeuge (§ 18 und § 19 ProstSchG) nicht zwischen Kleinst-, Klein- und Großbetrieben. Für Kleinst- und Kleinbetriebe sind die Anforderungen oft zu aufwendig. So dürfen die für sexuelle Dienstleistungen genutzten Räume nicht als Schlaf- oder Wohnraum genutzt werden. Dies bedeutet beispielsweise, dass die gemeinsame Nutzung einer Wohnung durch zwei Sexarbeitende als selbstbestimmte und sichere Arbeitsform so nicht mehr möglich ist. Auch kleinere Betriebe mit mehr als zwei Angestellten, die in vielen Fällen gute Arbeitsbedingungen bieten, konnten oft nicht alle Auflagen erfüllen und mussten schließen. Die Sicherstellung der geforderten sanitären Ausstattung in Fahrzeugen ist für viele schlichtweg zu teuer.
Wie oben beschrieben, kann gerade der vulnerable Teil der Sexarbeitenden den Auflagen des Gesetzes aus verschiedenen Gründen nicht nachkommen. Dies führt dazu, dass dieser Teil die Öffentlichkeit meiden muss und damit für anonyme Beratungs- und Unterstützungsangebote nur schwer oder gar nicht mehr erreichbar ist. Hinzu kommt, dass Sexarbeiter*innen erpressbar werden und dadurch die Gefahr, in Abhängigkeitsverhältnisse zu geraten, steigt.
Geschätzte Gesamtzahl der Sexarbeitenden: 42.000
Anmeldungen bis zum 31. Dezember 2017: 3.900 (siehe Bericht des
Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung vom 7.
November 2018 für den Ausschuss für Gleichstellung und Frauen des
Landtages Nordrhein-Westfalen).
Anlässlich des Internationalen Hurentags beteiligt sich die Aidshilfe NRW am Protest gegen die Bestimmungen des Gesetzes und fordert einen Richtungswechsel! Dazu haben wir auch einige Sexarbeiter*innen in kurzen Videoclips zu Wort kommen lassen:
"Merkste selber, Prostituiertenschutzgesetzes, ne?!" 🤔🤔🤔
Martin:
Die Aidshilfe NRW beteiligt sich am Protest gegen die Bestimmungen des Gesetzes und fordert einen Richtungswechsel! Die Videos verdeutlichen unsere Kritik anhand von konkreten Beispielen. ✊
Das ProstSchutzG und die Zwangsberatung
Nicole und Mechthild:
Sexarbeiter*innen, die bislang in der privaten Wohnung arbeiten konnten, haben nun viel höhere Auflagen. Diese sind kaum zu erfüllen und können ihre Sicherheit gefährden. Nicole und Mechthild sagen Euch warum. 🤨
Das ProstSchutzG und die geräumigen Wohnungen
Fabio:
Wie soll jemand ohne Wohnung, mit kaum etwas zu Essen und ohne, dass er die deutsche Sprache spricht, die viel zu hohen Anforderungen des Gesetzes erfüllen? Fabio jedenfalls wird keine Steuererklärung abgeben können. 🙄
Das ProstSchutzG und die Lohnsteuer-Erklärung
Manuel:
Gute Arbeit kostet was! Das Land NRW steckt einen Haufen Geld fürs neue Gesetz in die Verwaltung und Kontrolle. Die Beratungsstellen gehen leer aus. Manuel steht hier für viele, die darunter zu leiden haben. Weg mit der chronischen Unterfinanzierung! 😡
Das ProstSchutzG und die Beratungsstellen
Nicole:
Zwang war noch nie eine gute Voraussetzung für Beratung! Wenn dann auch noch kein Vertrauen aufgebaut werden kann, nützt das bestgemeinte Gesetz nix! Nicole erklärt Euch warum. ☝
Das ProstSchutzG und Zwangsprostitution
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