Am vergangenen Wochenende fand der 10. Deutsch-Österreichische AIDS-Kongress statt, aus bekannten Gründen virtuell. Hieran nahmen auch zahlreiche Kolleg*innen der Mitgliedsorganisationen und der Landesgeschäftsstelle der Aidshilfe NRW teil. Das Motto war "40 Jahre HIV/AIDS – Pandemie gestern und heute".
Schon während der Eröffnungssitzung wurde von verschiedenen Seiten Parallelen und Unterschiede zwischen HIV und Covid19 betont. Herausgestellt wurde, dass zurzeit besonders spürbar ist, wie sehr medizinischer und technischer Fortschritt Leben retten können. Schneller denn je. So wurde die Hoffnung formuliert, dass durch die medizinischen Entwicklungen in der Corona-Pandemie auch ein "Boost" für den medizinischen Fortschritt im HIV-Bereich erfolge. Und was bei Hepatitis teilweise gelungen sei, wäre auch für HIV wünschenswert: Impfung, Behandelbarkeit und Heilung. Über einige Entwicklungen wurde auf dem Kongress diskutiert, der in guter Tradition gemeinsam vom Mediziner*innen und der Community vorbereitet, geplant und durchgeführt wurde.
Stephan Gellrich, Mitarbeiter der Aidshilfe NRW für "Leben mit HIV" und Mitglied des Community-Boards des DÖAK 2021:
"Bei all dem Fortschritt, der begründet zuversichtlich stimmen mag und ein 'ziemlich normales' Leben mit HIV ermöglicht, treibt mich aber die Sorge des gesellschaftlichen Rückschritts um. HIV ist nie nur eine Infektionserkrankung gewesen. Sie war immer eng verbunden mit den Lebenswelten der Positiven. Abbau von Stigma und Kampf um Akzeptanz und Selbstverständlichkeit haben nie aufgehört. Bei allen erreichten Verbesserungen ist die Corona-Pandemie ein Katalysator für bereits überwunden geglaubte Gesellschafts -und Rollenmodelle. Kindererziehung? Frauensache! Häusliche Gewalt? Auf dem Vormarsch! Sexarbeit? Das geht nun wirklich nicht! Und dann auch noch Diskussionen über sexuelle Identität und Gendervielfalt? Echt jetzt? Selbst Krankenkassen versuchen, über die Kausalität des Verursacherprinzips Behandlungskosten für 'Angesteckte' einzuklagen. Geht’s noch?
Freuen wir uns gemeinsam über Fortschritte und neue medizinische und technische Möglichkeiten! Sie erleichtern unser aller Leben! Aber seien wir alle miteinander wachsam, wenn wir selbst und unsere Communities wieder Ziel von rückgewandten Tendenzen, Meinungen und gesellschaftlichen Entwicklungen werden. Wir sind da, wo wir sind, weil wir Haltung zeigen, solidarisch und offen für Neues sind!"
Domenico Fiorenza, Mitarbeiter der Aidshilfe NRW für "Drogen und Strafvollzug":
"Während Drogengebrauch jenseits von Chemsex kein prominentes Kongress-Thema war, beschäftigten sich einige der wissenschaftlichen Poster mit den Themen Prävention, Beratung und Test sowie Behandlung für drogengebrauchende Menschen. Das Robert Koch-Institut stellte die Nachfolgestudie der DRUCK-Studie vor, DRUCK 2.0. Mit Hilfe einer Pilot-Studie in 30 Einrichtungen in Berlin und Bayern aus dem Bereich Substitution und Drogenhilfe soll die Basis für ein regelmäßiges, bundesweites Monitoringsystem für Infektionskrankheiten bei drogengebrauchenden Menschen geschaffen werden [Poster 1]. Die aidshilfe dortmund, Gilead und weitere Partner stellten die zentralen Ergebnisse der Studie 'we care' zum HCV-bezogenen Gesundheitsverhalten drogengebrauchender Menschen vor [Poster 2]. Die Arbeitsgemeinschaft AIDS-Prävention NRW und die Landesstelle Sucht NRW präsentierten wiederum den Prozess und die Ergebnisse der landesweiten Empfehlung 'Harm Reduction: Risken mindern – Gesundheit fördern' [Poster 3].
Claudia Schieren, Geschäftsführerin von VISION und Mitglied im Bundesvorstand von JES, stellte die Perspektive drogengebrauchender Menschen im Community-Workshop ‚Wirkweisen von Intersektionalität für verschiedene Zielgruppen‘ dar. Im Fokus stand der Zugang zur medizinischen Versorgung. Ein bekanntes Problem: Aktiv drogengebrauchende Menschen haben nur erschwerten Zugang zur Hepatitis-C-Therapie. Viele Behandler*innen unterstellen ihnen eine unzureichende Compliance oder eine sofortige Reinfektion nach erfolgreicher Behandlung, obwohl zahlreiche Studien beide Vorurteile belegen. Noch schwieriger wird es bei eingewanderten drogengebrauchenden Menschen ohne Krankenversicherung. Bisher kann diese Versorgungslücke nur durch das Engagement Einzelner punktuell aufgefangen werden. Mittelfristig bedarf es politischer Lösungen, um einen gleichberechtigen Zugang zur Versorgung herzustellen."
Petra Hielscher, Mitarbeiterin der Aidshilfe NRW für "Frauen und HIV/Aids in NRW":
"Währende des Kongresses fanden verschiedene Vorträge und Seminare zu frauenspezifischen Fragestellungen statt. Auch die Behandlung von Schwangeren und Neugeborenen sowie die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit HIV wurde besprochen. Auffällig bei Tagungen wie dem DÖAK ist die große Beteiligung von Frauen. Gemessen am prozentualen Anteil der Frauen bei HIV-Infektionen in Deutschland sind sie an der Meinungsbildung und am Austausch sowohl in medizinischer als auch sozialer Hinsicht gut reprasentiert.
Positiv hervorheben möchte ich die Verleihung des DAIG Nachwuchsforscher*innenpreis. Im Rahmen des DÖAK wurden drei junge Frauen mit Nachwuchsforscher*innenpreisen ausgezeichnet: Dr. Kathrin van Bremen aus Bonn für eine Arbeit zu Late Presentern bei HIV/HBV-Koinfektion, Laila Cravat, ebenfalls aus Bonn für ihre Forschung zu HIV-Test Beratung und Durchführung in der Schwangerschaft und Lila Haberl aus Tübingen über ihre Dissertation über Stillen mit HIV. Angesichts dessen, dass gerade im Bereich Frauen und HIV mangelnde spezifische Forschung immer wieder bemängelt wird, ist es ein deutliches Signal, dass drei Frauen, davon zwei mit frauenspezifischen Themen, ausgezeichnet wurden."
Weitere Highlights des DÖAK 2021: ein Community-Workshop zu "Positiver Sexualität" mit 80 Teilhnehmenden; die Beteiligung der Community bei einer Session über Nebenwirkungen der Antiretroviralen Therapie durch Siggi Schwarze, der gut vermitteln konnte, wie neue Wirkstoffe in der ART auch neue Nebenwirkungen mit sich bringen. Wichtig ist, die Patient*innen mit ihren Beschwerden ernst zu nehmen; eine Community-Veranstaltung zum Älterwerden mit HIV; ein bemerkenswerter Beitrag zur Diskriminierung von Nicole Kamga, die sehr authentisch das Leben mit HIV in Deutschland aus ihrer Perspektive als schwarze positive Frau geschildert hat; schließlich die Präsenz von Trans-Personen in verschiedenen Veranstaltungen. Sichtbarkeit, Vielfalt, Respekt und Interesse ist so wichtig, unser Gesundheitssystem muss hier viel besser werden . Luft nach oben im Gesundheitssystem ist sowieso ein Thema. Wirkweisen von Intersektionalität haben Auswirkungen auf die gesundheitliche Versorgung. Das wurde sehr eindrücklich von vielen diversen Menschen, denen unterschiedliche Kategorien zugeschrieben werden, berichtet und diskutiert! Das Leben mit und die Behandlung von HIV sind und bleiben eine Herausforderung. In 40 Jahren HIV/Aids wurde viel gelernt. Die enge Zusammenarbeit von Ärzt*innen und den Communities sind absolut unverzichtbar. Den Abstractband des Kongresses finden Sie unter sv-veranstaltungen.de.
Hier gelangen Sie auf eine sichere Seite der Bank für Sozialwirtschaft, auf der Sie über ein Formular Ihre Spende direkt an die Aidshilfe NRW überweisen können.
Möchten Sie unseren Newsletter abonnieren? Dann finden Sie hier mehr: